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Wissen die Europäer, wie man Solidarität praktiziert?

„Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen." War dieses bekannte Zitat aus der Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950 vorausschauend, idealistisch oder anmaßend?

Wir müssen nach 71 Jahren erkennen, dass die Europäer im Allgemeinen keine andere Wahl haben, als untereinander Solidarität zu üben. Die Bürger erwarten es, und die Regierungen haben ein Interesse daran. Sind und bleiben die ersten Handlungsreflexe immer national und in Krisen egoistisch, so organisiert sich die Solidarität im Allgemeinen sehr schnell und immer selbstverständlicher. So hat das Corona Virus, das zunächst die Grundfesten der Europäischen Union durch das Wiederaufkommen von Grenzkontrollen erschütterte, im Gegenteil zu unerwarteten Akten der Solidarität geführt. Zuerst wurden Patienten in andere Länder verlegt, dann gab es einen Austausch von Personal, Ausrüstung und Impfstoffen, was schließlich und auf ganz natürliche Art und Weise dazu führte, dass die Mitgliedstaaten ihre Vorräte an wertvollen Impfdosen zusammengelegt haben. Solidarität auch mit Afrika zeigt sich durch den Covax-Mechanismus, der bereits 50 Millionen Impfstoffdosen an Länder geliefert hat, die sie nicht produzieren können. Dieser wird hauptsächlich von den Europäern finanziert und beliefert.

Viele Mechanismen und Beispiele zeigen, dass die europäische Solidarität sehr konkret und zunehmend selbstverständlich ist. Gegenseitige Verteidigungsklauseln, Solidarität im Katastrophenfall, gemeinsamer Katastrophenschutz, etc... Das beeindruckende europäische Konjunkturprogramm, das großzügiger mit den am meisten Betroffenen umgeht, ist ein deutliches Beispiel dafür.

Auf der anderen Seite gibt es einen Bereich, in dem noch weitere Anstrengungen unternommen werden müssen, nämlich in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Wenn zum Beispiel Griechenland durch die provokative Haltung der Türkei herausgefordert wird, wobei die Türkei unter Missachtung des Völkerrechts versucht, seine Ansichten in der Ägäis durchzusetzen, stellen sich nur wenige Länder spontan und entschlossen auf die griechische Seite. Einige versuchen sogar mit allen Mitteln eine Stellungnahme zu vermeiden. Nur Frankreich reagiert wie aus einem Reflex heraus. Es liegt in der Natur des Landes. Und wenn eines der französischen Schiffe skandalöserweise von dem NATO-Mitglied Türkei angegriffen wird, bekunden nur wenige EU-Mitgliedstaaten ihre Solidarität. Dies sind Vergehen gegen die Regeln und den Geist der Verträge. Auf der internationalen Bühne müssen die Europäer lernen, Solidarität zu zeigen, spontan und ohne Einschränkung. Dies ist die Bedingung für ihre Macht. Indem man diese zeigt, wird der Frieden und die friedliche Beilegung von Streitigkeiten garantiert.

Es hat viel zu lange gedauert, bis die europäische Diplomatie eine entschlossene Haltung gegenüber einem provokanten Nachbarn eingenommen hat, welcher die Politik der vollendeten Tatsachen besser beherrscht. Erst mit dem Beginn einer gemeinsamen Sanktionspolitik kam die Europäische Union zur Besinnung.

Robert Schuman hatte Recht: Die Solidarität der Tat entstand aus einer langen Geschichte der Zusammenarbeit zwischen den Europäern, die immer stärker geworden ist. Es bleibt unseren Staaten überlassen, die Verantwortung dafür zu übernehmen, die Solidarität zu organisieren und sie noch mehr vom Rest der Welt einzufordern.
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