fr en de
portrait

Europa, Recht und Vertrauen

Die Europäische Union wird durch eine globale Entwicklung herausgefordert, in der „Stärke" zunehmend Vorrang vor dem Recht eingeräumt wird. Dafür gibt es viele Beispiele. Die Türkei verstößt wie China absichtlich gegen das internationale Seerecht, Russland verletzt seine internationalen Verpflichtungen bezüglich des Einsatzes chemischer Waffen, und die USA legen Gesetze zum Vorteil ihrer Unternehmen aus.

Bis heute ist Europa das Reich des Rechts geblieben. Die Europäische Union legte die Grundlagen für die Menschenrechte, die durch das Gesetz geschaffen und für das Recht der europäischen Völker auf ein Leben in Frieden erdacht wurden. Dies ist ein Grund, weshalb die Union bei der Anwendung des Rechts ziemlich rigide war. Dafür wurde sie bereits einige Male kritisiert.

Die Briten verletzen in einem Akt – der für ein Land, welches behauptet, eine große Nation zu sein, absurd ist – offen und vorsätzlich ihre Verpflichtungen in Europa. Obwohl sie diese Vereinbarung vor weniger als einem Jahr unterzeichnet haben, stellen sie das Austrittsabkommen, das sie an die Europäische Union bindet, in Frage.

Das Europäische Parlament selbst verstößt als gemeinsamer Gesetzgeber gegen die europäischen Verträge. Unter dem Vorwand der sanitären Lage, welche in Brüssel ebenso angespannt ist wie in der elsässischen Hauptstadt des Europas des Rechts, weigert man sich in Straßburg zu tagen. Damit gibt man denjenigen Recht, einschließlich den Föderalisten, die fordern, dass der Sitz der europäischen Institutionen auf einen Ort begrenzt wird. Darüber hinaus würden sie, wenn sie logisch und ehrlich in ihrem integrationistischen Engagement wären, auch verlangen, dass Belgien die Souveränität des europäischen Viertels in Brüssel an die 27 Mitgliedsstaaten abtritt. Es ist in der Tat nicht normal, dass sich der Sitz der gemeinsamen Institutionen in der Hauptstadt eines Staates befindet, und Dinge, die dort geschehen, in die Zuständigkeit des belgischen Rechts fallen. Die Geschichte des Föderalismus erinnert uns daran, wie Washington, Ottawa, Brasilia, Abuja und viele andere Hauptstädte aus diesem Wunsch nach Unabhängigkeit, in Bezug auf das lokale Recht und zum Nutzen eines gemeinsam erarbeiteten Rechts, entstanden sind.

Das Recht ist überall auf dem Rückzug, und das ist eine Herausforderung für Europa. Covid-19 ist eine Gelegenheit, Freiheiten „im Namen" der Gesundheit einzuschränken, indem außergewöhnliche Zwangsmaßnahmen, die teilweise wenig überzeugend sind, über einen ausgedehnten Zeitraum verlängert werden. Dazu wird die Angst gefördert, und leider funktioniert dies.

Wir hatten bereits erlebt, wie Antiterrorgesetze in die Freiheiten eingriffen, wie Parlamente ihren Mitgliedern die Anwesenheit untersagten, französische Richter das Abhören von Telefonen missbrauchten, italienische Verantwortungsträger sich weigerten, Schiffbrüchigen zu helfen... Wir sehen jetzt, wie Großmächte die Politik der vollendeten Tatsachen praktizieren, sich von den Zwängen des Völkerrechts befreien und damit den Europäern die Jahre des Aufbaus zivilisierter Beziehungen zwischen den Nationen zerstören. Letztere sollten in ihrer Verbundenheit mit dem Gesetz nicht wanken. Die Mitglieder des Europäischen Parlaments sollten es sich zweimal überlegen, wie man agieren muss, bevor sie sich auf ähnliche gefährliche Wege begeben. 

Der europäische Kontinent darf nicht vergessen, dass nur das Gesetz die Freiheiten garantiert und vor Auswüchsen schützt. Jede Verletzung, "selbst wenn sie spezifisch und begrenzt ist", wie ein britischer Außenminister es ausdrückte, bringt Europa zu seinen gefährlichsten Tendenzen zurück und ist eine Quelle der Freude für die Tyrannen, die die EU herausfordern, seien es Chinesen, Russen, Weißrussen oder Türken. Wenn Europa nicht dank des Gesetzes die Hüterin der Freiheiten und das Beispiel der pluralistischen Demokratie bleibt, wer dann?
signature