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Wie lange noch, NATO?

Der amerikanische Präsident attackiert die Europäische Union mit zunehmender Intensität. Er bedroht sie in Handelsfragen, bedrängt sie im Militärischen, zögert nicht mit Versuchen der Destabilisierung. Sie ist ihm unbequem auf der internationalen Bühne.

Er bereitet den systematischen Rückzug seines Landes aus all jenen multilateralen Organisationen vor, die es lange Zeit geschaffen und unterstützt hatte: Das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP, den nordamerikanischen Handelspakt NAFTA, das Atomabkommen mit dem Iran, die UNESCO, den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, bald die Welthandelsorganisation... Die Europäische Union bleibt unterdessen das leuchtende Beispiel eines erfolgreichen Multilateralismus.

Trump bekräftigt, in wenig abgewogenen Worten, die Tendenz seines Landes zum Rückzug aus den internationalen Angelegenheiten, die auch dessen Partnern mehr und mehr dämmert. Das Erbe Andrew Jacksons, das ihn leitet, darf jedoch weder die Brutalität seines Vorgehens, noch dessen schwerwiegende Folgen verdecken. Überall entsteht Unsicherheit durch die amerikanische Ablehnung internationaler Führung und nährt aktuelle wie künftige Konflikte. All das ist so weitgehend, dass die Zukunft der NATO auf dem Spiel steht, die ohnehin bereits von der Türkei unterminiert wird.

Wird die NATO am Rückzug der Amerikaner zugrunde gehen?

Über Trumps Vorwurf gegenüber den Europäern, sie gäben nicht genug für ihre Verteidigung aus, lässt sich nur milde lächeln, weiß man doch, dass der Nettobeitrag der Vereinigten Staaten zum Budget der NATO gerade mal ein Tausendstel ihres enormen Verteidigungshaushalts ausmacht. Besteht der wahre Grund für den Fortbestand der NATO nach dem Ende des Kalten Krieges etwa in der Mehrung amerikanischer Interessen? Sehen die Vereinigten Staaten sich nun in der Opposition eines Europa, das sich aufgerichtet, vergleichbare wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erreicht und ihren Platz als vernünftige Macht auf der Weltbühne eingenommen hat?

Der NATO-Gipfel am 11. und 12. Juli gibt den Europäern die Gelegenheit für eine ehrliche Bestandsaufnahme. Werden sie eine solche wagen? Die NATO sichert unseren Kontinent, sie ist weiterhin vonnöten. Sie hat ein vormals für undenkbar gehaltenes Niveau der Interoperabilität der Armeen unseres Kontinents ermöglicht. Falls Europa sich allerdings zu wahrhaftigen Anstrengungen durchringt, die seine eigene Verteidigung auf längere Sicht betreffen, so kann es sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Die Allianz vertritt das Lager der liberalen Demokratie in einer Welt, in der sie sich auf dem Rückzug befindet. Sie besitzt einen Mehrwert im Angesicht einer von Revisionismus und Unsicherheit geprägten Nachbarschaft.

Doch will Donald Trump diese Allianz überhaupt noch?

Er trifft Diktatoren wie Kim Jong Un, bespricht sich mit dem russischen Präsidenten nur wenige Tage nach dem NATO-Gipfel, präferiert einen als Bilateralismus getarnten Minilateralismus, bemüht sich um Zwietracht unter den Europäern. Hat sich der amerikanische Präsident dazu entschlossen, Europa, den zweiten großen Pfeiler der globalen Demokratie, schwächen zu wollen? Um mit dem aufsteigenden Asien und dessen autoritären Regimen mithalten zu können? Will er das wirklich und hat er dazu die Mittel? Und ist das den Europäern so eng verbundene amerikanische Volk mit dieser angekündigten Abkehr vom nationalen Erbe einverstanden?

Die Europäer täten gut daran, die ungenaue und ungerechtfertigte Kritik dieses so speziellen Präsidenten nicht zu akzeptieren und ihm die ehrliche Frage zu stellen: Wollen Sie die NATO verlassen?

Wie auch immer seine Antwort ausfallen mag, alleine die Frage zeigt, wie seht sich das Umfeld Europas verändert hat und wie nötig es ist, dass Europa sich zusammennimmt und für sich glaubwürdige Antworten auf seine sicherheitspolitischen Herausforderungen und die Erwartungen seiner Bürger formuliert. Eine derartige Erpressung jedenfalls kann nicht hingenommen werden, vor allem nicht auf der Suche nach mehr Unabhängigkeit des Kontinents auf der internationalen Bühne. Ironischerweise könnte diese erreicht gerade durch einen Erhalt der NATO erreicht werden, allerdings ohne die Amerikaner.
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