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"Europa ist nicht zustande gekommen, wir haben Krieg gehabt"

Emmanuel Macron zitierte bei seiner am 26. September an der Sorbonne gehaltenen Europarede die historische Erklärung Robert Schumans und verlieh ihr so eine dramatische und feierliche Note. Man sollte sich darüber nicht lustig machen, denn die Tonlage war angebracht.

Der Wettbewerb in einer sich wandelnden Welt kommt mehr und mehr einer Lotterie gleich. Ständige Überraschungen und ungekannte Instabilität werden zur Konstante. Die Rivalitäten schießen ins Kraut. Die Gefahren, die unsere Zeit bereithält, werden zwar von allen anerkannt. Doch spielt ein jeder weiterhin sein Spiel, gleich welchen Einfluss das auf den jeweils Anderen haben mag.

China setzt seinen Aufstieg fort, die Vereinigten Staaten versinken im Protektionismus, bald vielleicht im Isolationismus. Russische und türkische Revisionisten schüren Frustration, die Ungleichheit zwischen den Kontinenten bleibt ein in jedem Moment entflammbares Pulverfass, die nukleare Frage regt in der Nordkoreakrise erneut ihr Haupt. Die Welt bewaffnet sich von Neuem und die wenigen offen zutage getretenen Konflikte können nicht über die allerorten schlummernden Herde von Gewalt, Drama und Elend hinwegtäuschen.

Die Europäer lägen falsch, würden sie diesen historischen Moment verstreichen lassen. Sie dürfen sich nicht auf ihrem Wohlstand ausruhen, auf ihrem offenen Lebensentwurf und ihrem großzügigen Sozialmodell. Auf lange Sicht, und möglicherweise nicht so lange wie mancher denkt, sind auch in Europa Frieden und Stabilität nicht gesichert. Es ist die Aufgabe der Europäer, Antworten zu finden auf die Umwälzungen der Welt. Damit anfangen sollten sie bei sich selbst.

 Frankreich, von Anbeginn im Herzen des europäischen Projekts befindlich, wird seinem eigenen Status gerecht, wenn es Andere zum beherzten Handeln auffordert. Angesichts der wirtschaftlichen und politischen Weltläufte und der damit verbundenen Möglichkeit, dass Europa seinen Rang verliert und eine neuerliche Zeit von Blut und Tränen kennenlernt, ist dem französischen Präsidenten Recht zu geben. Es ist eine nicht von der Hand zu weisende Notwendigkeit, über die Rolle Europas in der Welt nachzudenken, dem Kontinent alle Möglichkeiten zur Selbstbehauptung an die Hand zu geben und sich nicht nur auf interne Herausforderungen zu konzentrieren. Die Mission des französischen Präsidenten ist eine gerechte. Er hat sie angereichert mit rund siebzig konkreten Vorschlägen, die alle zusammen nicht nur die Einsicht in eine Notwendigkeit bedeuten, sondern einen Aufbruch. Der Präsident wird nicht alles davon durch- und umsetzen können. Aber er wird seiner Aufgabe als Anführer gerecht, nämlich den Weg zum Handeln zu weisen, solange die Zeit noch günstig ist.

 Zu seinen Zeiten wusste auch Robert Schuman ein Risiko einzugehen, indem er im Angesicht allgegenwärtiger Konflikte einen Bruch mit dem Althergebrachten vorschlug. Die Geschichte hat ihm Recht gegeben. Heute braucht Europa wieder einen solchen Bruch, mit den Gewohnheiten, den eingefahrenen Wegen und all den Annehmlichkeiten. Nach der Rede von Emmanuel Macron wird niemand sagen können, dass es nichts zu diskutieren, zu konstruieren und zu entwickeln gäbe, um den Europäern eine Zukunft nach ihren Wünschen zu ermöglichen.

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