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Europa first!

 Seit langer Zeit schon fordern viele, dass sich die Europäische Union als internationale Macht begreifen solle. Die Welt verändert sich in rasender Geschwindigkeit und Europa bleibt unter seinen Möglichkeiten. Ein neuer strategischer und politischer Kontext verlangt es, dass sich Europa dieser Priorität nun zuwendet. Das betrifft seine Sicherheit, seine Wirtschaft, sein politisches Modell.



Die gespaltene Europäische Union ist heute, aufgrund ihrer Geschichte, ihrer Kompetenzen und ihrer Verträge, nicht in der Lage, auf die wachsenden sicherheitspolitischen Herausforderungen zu reagieren. Sie kann keine machtvolle Diplomatie betreiben ohne den notwendigen militärischen Unterbau, der ihr Glaubwürdigkeit verleiht. Sie kann keinen dauerhaften Frieden schaffen ohne den Willen, auch für ihn einzustehen und ihn herbeizuführen. Nun scheinen aber nur wenige ihrer Mitgliedstaaten einen strategischen Ausblick auf die Welt zu teilen und darüber hinaus zu militärischen Einsätzen tatsächlich in der Lage. Die meisten von ihnen haben sich auf die mit den Amerikanern geknüpfte nordatlantische Allianz verlassen. Der Brexit und die amerikanischen Wahlen hingegen haben gezeigt, dass eine solche Allianz, so stark und nützlich sie auch sein mag, die Autonomie im Denken nicht ersetzen kann, die echte Unabhängigkeit zugrunde liegt. Ein Vertrag zur Verteidigung Europas ist bitter nötig, um eine ernsthafte kollektive Abwehr äußerer Gefahren zu gewährleisten, mit geteilten Zielen, Mitteln und einer gemeinsamen Strategie. Es ist der Dringlichkeit der Situation nicht angemessen, gemeinschaftliche Instrumente zu schaffen, die nur unter der Voraussetzung absoluter Einstimmigkeit funktionieren. Es ist notwendig, politischen Willen mit den erforderlichen Kapazitäten zusammenzubringen.



Das gleiche gilt für die Wirtschaft. Europa, ein weitaus mächtigerer Kontinent als seine geografische und demografische Größe vermuten ließen, ist angehalten, weltoffen zu sein. Es muss in der Lage sein, die Bewegung des nationalen Rückzugs zu überwinden, wenn es sich als autonome und handlungsfähige Macht begreift, die auf die Erwartungen ihrer Völker einzugehen imstande ist. Deshalb muss Europa seine Wettbewerbs- und Handelspolitik überdenken und auf Offenheit, Wechselseitigkeit und europäische Präferenzen trimmen. Seine gemeinsame Währung stellt einen Trumpf dar, seine Handelsmacht einen großen Vorteil, sie können also auch als Waffen in einem politischen Projekt dienen.



Die Migrationsfrage, die uns schon seit langer Zeit beschäftigt, stellt eine ganze Reihe an wirtschaftlichen, sozialen und Identitätsfragen, auf die die Mitgliedstaaten keine Antworten mehr finden. Konkret könnten deshalb einige unter ihnen vorangehen und als Pioniere eine gemeinsame Asylpolitik, die mit unseren Werten im Einklang steht, und eine Einwanderungspolitik schaffen, die sich nach den unterschiedlichen Bedürfnissen der einzelnen Mitgliedstaaten richtet.



Um in diesen drei für das europäische Projekt entscheidenden Feldern voranzukommen, der Sicherheit, der Wirtschaft und der Zuwanderung, können sich die Europäer auf gemeinsame Institutionen verlassen, die ihre Suche nach Kooperation zu unterstützen und zu vereinfachen imstande sind. Die „Juncker’sche Wende“ ist eine Tatsache. Seine Kommission ist politisch und entschlossen. Doch nichts entbindet die Staats- und Regierungschefs von ihrer Verantwortung. Juncker geht mit gutem Beispiel voran. So könnte auch die fortschreitende Integration der Normen und des Rechts durch eine Integration des guten Beispiels abgelöst werden. Zusammen mit einigen als gutes Beispiel vorangehen und die Tür für andere Staaten offenhalten, die später noch folgen wollen. So würde man diese Staaten herausfordern, eine politische Entscheidung zu treffen und sie umzusetzen. Das ist weit entfernt von der Indifferenz, die sie der europäischen Konstruktion entgegenbringen, um nicht zu sagen der feigen und einfachen Kritik, die sie der gemeinsamen Politik entgegenhalten. Auf gewisse Weise würde man so ein Bekenntnis von ihnen fordern: Europa first!
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