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Ein Wolf!


Eine der ältesten Geschichten, die man französischen Kindern aus pädagogischen Gründen erzählt, ist jene eines kleinen Jungen vom Land, der immer wieder „Ein Wolf!“ ruft, um sich sodann am Aufruhr zu amüsieren, der jedes Mal die ihm zur Hilfe eilende Nachbarschaft befällt. Bis zu jenem Tag, an dem ihm die Nachbarn, an seinen sich wiederholenden Streich gewöhnt, nicht zur Hilfe kommen, obwohl der Hilferuf dieses eine Mal ein echter ist. Der kleine Landbewohner wird vom Wolf verschlungen.Die europäischen Politiker, die den Untergang des europäischen Projekts beschwören, sie sollten sich daran ein Beispiel nehmen. Die Verantwortung zu tragen ist etwas ganz anderes als ein Fußballspiel vom Rand des Feldes her oder, noch besser, vor dem Fernseher zu kommentieren.

All das hat sich aufs Neue in den Verhandlungen mit Großbritannien bewahrheitet, die die Union schwächen. Oder wenn alle die Vertiefung der Eurozone und die Stärkung des europäischen Projekts beschwören, aber nicht die kleinen Schritte auf dem Weg zu diesen Zielen darlegen. Oder im Rahmen der Flüchtlingskrise. Am schlimmsten ist es bei der europäischen Sicherheit. Die ganze Welt ermahnt Europa, endlich aufzuwachen, doch diejenigen, die die Gefahren für die europäische Sicherheit, ob nah oder fern, ernst nehmen, sind immer noch rar.

Die Bürger, weiser als ihre politischen Eliten, haben längst verstanden, dass, wenn die Lösungen europäische sein sollen, dies auch offensichtlich werden muss. Das heißt, dass diese europäischen Lösungen auch umgesetzt werden müssen. Doch nichts bewegt sich wirklich. Angesichts der multiplen Herausforderungen, die der Kontinent zu überwinden hat, können Lösungen nur durch gutes Beispiel geschaffen werden. Dass jene, die, oft gerechtfertigt, Änderungen verlangen in der Verfasstheit der Union, durch gutes Beispiel vorangehen. Man denkt unmittelbar an das deutsch-französische Paar, das vordergründig eine befriedete Beziehung führt, während sich zwischen beiden Staaten immer größere Abgründe auftun. Die wahrhaftige Vertrautheit zwischen den Politikern der Union, die immerzu und über alles miteinander sprechen, wird von der Rückkehr der nationalen Interessen kontaminiert.

Europa muss wieder einen Kurs für sich finden, sich auf eine Vision einigen, die es seinen Bürgern vorlegen kann. Europa muss aufhören, Politik „mit dem Strom“ zu machen, nur anhand von „Krisen“ und nach alter Gewohnheit zu handeln. Mit 28 Staaten wird das schwierig, mit wenigen möglich, zu zweit deutlich leichter. Die Aufgabe ist bekannt: den Integrationsstand beibehalten, aber Identitäten respektieren. Die Praktiken zu ändern, ohne die Verträge in den Müll zu werfen. Wie bei einem Computer, der sich umprogrammieren lässt, ohne einen neuen kaufen zu müssen. Die massive Immigrationsbewegung eindämmen, die sich auf den Weg gen Europa gemacht hat. Diejenigen aufnehmen, die ein legitimes Recht auf internationalen Schutz wegen Kriegen in ihren Heimatländern genießen. Endlich die Außengrenzen sichern, um die Rückkehr von Innengrenzen zu verhindern. Schließlich die Sicherheit Europas durch eine immense Verteidigungsanstrengung garantieren. Um sich dieser letztlich nicht bedienen zu müssen und doch bereit zu sein für den Notfall. Das alles betrifft aber vielmehr die Mitgliedstaaten als die Europäische Union als Ganzes.

Dies scheinen mir die wirklich dringlichen Dinge zu sein im Moment. Der Rest, der ganze Rest, so wichtig er auch auf den ersten Blick
erscheinen mag, ist nicht als Dekor.

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