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Ein Wendepunkt für Europa?

In diesem Jahr können wir die Erneuerungen sämtlicher europäischer Institutionen beobachten.

Man spricht nun davon, dass sie “politischer” geworden seien – aber was soll das heißen?

Eine Rechts-links-Sichtweise, mit der manche auf sie schauen, ist sicher keine gute Wahl.

Denn eine solche greift zu kurz, nur um auf diese Weise einen demokratischen Fortschritt sehen zu können. Wie die Europawahlen gezeigt haben, sind von diesem Blickwinkel aus einzig die Populisten auf dem Vormarsch.

Die Union bleibt noch immer diejenige der souveränen Mitgliedstaaten und Völker, die sich in ihr zusammentun. Auf der Suche nach Legitimität darf sie die Räume nationaler Öffentlichkeit nicht umgehen. Auch verfügt sie nicht über sämtliche Kompetenzen, die es ihr erlauben, den großen europäischen Entscheidungen die Stirn zu bieten. Diese Entscheidungen werden nicht darin bestehen, sich auf die ideologischen Unterschiede zu beschränken, die sie auseinandertreiben. Sie sind wirtschaftlich und global.

Das so lange erwartete Wachstum wird nicht mit der neuen Welle einer entschlossenen Integration kommen, die einzig und allein darauf abzielt, eine nie mehr als jetzt notwendig gewesenen Wirtschafts- und Währungsunion umzusetzen. Sie muss fiskalisch und sozial sein. Sie darf fortschrittlich sein. Und sie soll dabei noch über eine echte Roadmap, die demokratisch debattiert und akzeptiert ist, hinausgehen.

Die neue Kommission kann hierzu ihren Beitrag leisten – aber es geht auch darum, dass in den Hauptstädten, zumindest in einigen von ihnen, eine Mobilisierung beginnt. Von diesem Blickwinkel aus wirken die aktuellen Debatten über umzusetzende ökonomische Maßnahmen veraltet und glanzlos. In einer globalisierten Wirtschaft führt jeder Anstoß, der eine Lockerung der Disziplin beinhaltet, nur zu einer Hemmung der sich wieder belebenden Wirtschaft. Sich das amerikanische Beispiel zur Hilfe nehmen zu wollen ist ein Privileg, das man sich als Inhaber der wichtigsten Währung und größten Armee der Welt erlauben kann, nicht aber als verdrossener Kontinent mit einem Machtkalkül. Es ist genau das, was Europa fehlt.

Denn angesichts der Bedrohungen, die sich ringsum an seinen Grenzen erheben und mit Blick auf die sich stetig vermehrenden geopolitischen Unsicherheiten kann es nicht regungslos und unbewaffnet wie eine schöne reife Frucht bleiben, ohne sich mehr mit seinen diplomatischen und militärischen Mitteln auseinanderzusetzen. Für die Umsetzung dieser Aufgabe übergeordneten Interesses muss in den Mitgliedstaaten – und zwar in einigen – noch immer ein echter Weckruf stattfinden. Die EU-Kommission kann einen solchen betreuen, das Europaparlament kann sich der Sache annehmen, aber die Verantwortung verbleibt primär bei den nationalen Regierungen.

Auf diese drei zugleich politischen, wirtschaftlichen und sicherheitsrelevanten Herausforderungen kann die Europäische Kommission nicht alleine antworten. Sie hat löblich damit begonnen, indem sie Prioritäten im Energie- Wirtschafts- und Digitalressort gesetzt hat. Nach der Reform ihrer Funktionsweise versteht sie ihre Rolle und wird es mit den politischen Verantwortungsträgern, die ihr Handeln ausfüllen und sich darüber im Klaren sind, besser als in der Vergangenheit machen. Sie wird außerdem von einem Mann mit Erfahrung angeführt, der alle Facetten des gemeinschaftlichen Lebens – in Brüssel wie in den Nationalstaaten kennt – und der weiß, wie man sich dem Kern einer Sache widmet ohne sich in Einzelheiten zu verlieren. Die Kommission wird jedoch nicht die Nationalstaaten von ihrem unentbehrlichen politischen Willen befreien, der für den Fortschritt Europas nötig ist.

Europa wird nicht von oben herab gebaut werden, auch wenn es an seiner Spitze nun mit neuen, mächtigen und verantwortungsbewussten Institutionen ausgestatten ist, die sich reformieren müssen. Jean-Claude Juncker hat sich verdient gemacht, indem er daran erinnerte: Jetzt oder Nie!

2014 kann für Europa ein großer Wendepunkt – oder aber die Geburtsstunde neuer Enttäuschungen werden. Von letzteren gibt es bereits genug.

Es ist also keine Zeit zu verlieren.
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